Seenotrettung:Das Sterben im Mittelmeer macht keine Pause

Seenotrettung: Flüchtlinge im Mittelmeer werden von einer spanischen NGO gerettet, Bild aus dem November 2020.

Flüchtlinge im Mittelmeer werden von einer spanischen NGO gerettet, Bild aus dem November 2020.

(Foto: Sergi Camara/AP)

Allein am Donnerstag starben mindestens 94 Menschen bei dem Versuch, das Mittelmeer Richtung Europa zu überqueren. Die Schiffe der meisten Hilfsorganisationen sind weiterhin blockiert, auf EU-Ebene stehen Antworten auf die dramatische Lage aus.

Von Karoline Meta Beisel, Brüssel, und Oliver Meiler, Rom

Ein kurzes Video, 28 Sekunden lang, führt Europa vor, dass die Flucht über das Mittelmeer weitergeht - auch während der Pandemie, bei rauer See und ohne Aussicht auf Hilfe. Veröffentlicht hat die Aufnahmen die katalanische Hilfsorganisation Open Arms. "Damit alle Augen sehen, was unsere Augen sehen", schreibt sie dazu. Das Video zeigt eine Mutter, 20 Jahre alt, aus Guinea, die gerade zwischen Libyen und Italien aus den Wellen gerettet worden ist. Auf dem Rettungsboot bangt sie um ihren sechs Monate alten Sohn Joseph, der ihr bei der Operation aus den Armen geglitten ist: "Where is my baby? I lose my baby!", ruft sie. Was man nicht sieht: Kurz darauf finden die Helfer das Baby, völlig erschöpft. Es stirbt an Herzstillstand, bevor der Rettungshubschrauber aus Lampedusa eintrifft.

Immer wieder gibt es Zeitdokumente, die das tödliche Drama der Flucht nach Europa ikonenhaft festhalten. Wie das Bild aus dem Jahr 2015: der Leichnam des syrischen Jungen Alan Kurdi, drei Jahre alt, den die Wellen an einen Strand von Bodrum schwemmten. Oder das Bild von Josefa vor zwei Jahren, einer Kamerunerin, die sich 48 Stunden lang an einem Stück Treibholz festgeklammert hatte, bis sie gerettet wurde - mit weit aufgerissenen, vor Angst gelähmten Augen: Sie hatte alle Mitfahrenden sterben sehen. Das Video von Josephs verzweifelten Mutter reiht sich da ein.

Frontex hat die NGO wegen der Havarie alarmiert. Das sei seit 2016 nicht mehr vorgekommen.

Ungefähr 900 Migranten ertranken seit Beginn des Jahres auf der Route durch das zentrale Mittelmeer, schätzt die UN-Organisation für Migration. Allein am Donnerstag starben bei zwei Unglücken 94 Menschen. Sie waren im kriegszerrissenen Libyen auf viel zu kleine Boote mit viel zu wenig Treibstoff gedrängt worden und kamen nicht weit. In einem Fall konnten libysche Fischer 47 Überlebende finden, im anderen drei.

Auf dem Schlauchboot, auf dem auch Joseph mit seiner Mutter gereist war, ging das Benzin nach eineinhalb Tagen aus, sie waren etwa hundert an Bord. Open Arms schaffte es, 88 von ihnen zu retten - es war, trotz allem, ein Glücksfall. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hatte die NGO über die Havarie des Boots benachrichtigt. Das sei seit 2016 nicht mehr vorgekommen, berichten die Verantwortlichen von Open Arms.

Open Arms ist derzeit die einzige Organisation, die Missionen vor der libyschen Küste fährt. Ihr Schiff steht nun mit 263 Geretteten an Bord vor Lampedusa und wartet auf die Zuweisung eines Hafens, was Tage bis Wochen dauern kann. Italien und Malta befinden sich im Notzustand wegen der Pandemie, sie haben ihre Häfen deshalb als unsicher eingestuft. Erst wenn sich Partnerstaaten in der EU auf eine Aufteilung der Migranten einigen, lassen sie die Schiffe anlanden.

Dass die privaten Retter nicht auslaufen dürfen, geschieht aus mutmaßlich vorgeschobenen Gründen

Gleich vier Schiffe von NGOs sitzen im Moment fest. Die Louise Michel des britischen Künstlers Banksy liegt an einem spanischen Hafen, die deutsche Sea Watch 4 in Palermo, die ebenfalls deutsche Alan Kurdi von Sea Eye im sardischen Olbia, die Ocean Viking von SOS Méditerranée im sizilianischen Porto Empedocle. Die italienischen Behörden hindern die Schiffe mit mutmaßlich vorgeschobenen Argumenten am Auslaufen, etwa mit dem Vorwurf administrativer Vergehen oder mit langwierigen Eignungsverfahren.

Das Bündnis "United4Rescue", das an der Sea Watch 4 beteiligt ist, klagt angesichts der jüngsten Unglücke über die Schikanen. Dass rechtliche Fragen mehr Gewicht eingeräumt würden als der humanitären Dringlichkeit, bedauere er sehr, sagte Heinrich Bedford-Strohm, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland und Mitinitiator. "Dem himmelschreienden Leid und sinnlosen Sterben im Mittelmeer muss endlich ein Ende bereitet werden", forderte er nach einem Gespräch mit der italienischen Transportministerin und dem Chef der italienischen Küstenwache, die fast täglich Schiffbrüchige in Sicherheit bringt.

Derweil kommen die europäischen Länder nicht voran bei der Regelung für die Verteilung von Bootsflüchtlingen

Auf europäischer Ebene wird über die Frage der Seenotrettung derzeit aber nicht einmal diskutiert. Der Vorschlag der EU-Kommission für eine Asylreform enthält zwar Passagen, die sich mit der Verteilung von aus Seenot Geretteten befassen. Die Mitgliedsländer beginnen allerdings gerade erst, sich mit diesem Vorschlag auseinanderzusetzen. Die Verhandlungen dürften sich hinziehen, und ob es am Ende tatsächlich eine Einigung geben wird, ist ungewiss. Für die Debatte um die Seenotrettung dürfte das bis auf Weiteres Stillstand bedeuten - denn schon in der Vergangenheit wollten die EU-Staaten sich in dieser vergleichsweise kleinen Frage nicht bewegen, solange nicht auch die große geklärt ist, die nach einem gemeinsamen Asylsystem.

Dafür steigt der Druck auf Frontex. Nach Berichten über die Verwicklung von Frontex-Beamten in sogenannte Push-Backs in der Ägäis - bei denen Migranten entgegen internationalem Recht auf die andere Seite der EU-Grenze zurückgedrängt werden - hatte EU-Kommissarin Ylva Johansson eine Dringlichkeitssitzung des Verwaltungsrats einberufen. Das Treffen am Dienstag sei "ein guter Anfang" gewesen, sagte sie danach. Bis zum nächsten Treffen Ende November soll Frontex-Chef Fabrice Leggeri Fragen der Kommission zu den Vorfällen schriftlich beantworten.

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