Der Schutzengel im Hauptbahnhof leidet unter Raclette- und Bratwurstdämpfen

Die sogenannte Wannerhalle im Hauptbahnhof Zürich hat eine äusserst wechselvolle Geschichte. Seit gut zwanzig Jahren wacht darüber Niki de Saint-Phalles «Ange protecteur», der leider nicht gut gealtert ist.

Adi Kälin
Drucken
Der (verschmutzte) Engel im Hauptbahnhof, von der Hebebühne aus gesehen.(Bild: Simon Tanner / NZZ / © Pro Litteris)

Der (verschmutzte) Engel im Hauptbahnhof, von der Hebebühne aus gesehen.
(Bild: Simon Tanner / NZZ / © Pro Litteris)

Am 7. August 1847 fuhr die erste Eisenbahn von Baden nach Zürich, die bald schon den Übernamen Spanisch-Brötli-Bahn bekam. Exakt 150 Jahre später wurde das Jubiläum gross gefeiert. Man hatte eigens ein Gleis gelegt, damit ein Zug direkt in die Halle des Hauptbahnhofs einfahren konnte – genauso wie im 19. Jahrhundert. Erst als der Platz für die Passagiere und die zahlreichen Züge nicht mehr gereicht hatte, war das Ende der Gleise vor die Halle verlegt worden.

Aufstieg in Nebelschwaden

Den Abschluss des Jubiläumsjahrs markierte ein Kunstwerk: Niki de Saint-Phalle war damit beauftragt worden, eine fliegende Version ihrer «Nana» zu schaffen, die gross genug ist, gegen die Monumentalität der Halle zu bestehen. Der «Ange protecteur», wie das Werk schliesslich hiess, schaffte dies mit seinen elf Metern Länge und dem Gewicht von über 1,5 Tonnen spielend. Im November 1997 wurde er vor viel Prominenz enthüllt, beziehungsweise er «stieg, von dramatischen Nebelschwaden eingehüllt, aus einer schwarzen Kiste hinauf in luftige Höhe», wie die NZZ damals schrieb.

Die Halle, über die er seither wacht, ist etwas weniger alt als der Beginn der Bahngeschichte. Ein Vorgängerbahnhof war bald zu klein geworden und musste 1871 durch einen Neubau von Jakob Friedrich Wanner ersetzt werden. Der Chefarchitekt der Nordostbahn griff bei seinen Entwürfen unter anderem auf Elemente von Gottfried Semper zurück, der sich Jahre zuvor an einem Wettbewerb zum Bau des neuen Bahnhofs beteiligt hatte. Vor allem die nach Wanner benannte Halle ist eine eigentümliche Mischung aus Tempel und Industriebau.

Im Jahr 1867 werden die ersten Fachwerkträger des neuen Hauptbahnhofs verlegt. (Bild: Baugeschichtliches Archiv)
6 Bilder
Als es noch keine Rollkoffer gab. (Bild: Bildarchiv ETH-Bibliothek)
Werbung für das Berner Oberland in der Bahnhofshalle. (Bild: Baugeschichtliches Archiv)
Der Hauptbahnhof um 1920. (Bild: Baugeschichtliches Archiv)
Kino in der Bahnhofshalle im Jahr 1959 (Bild: Baugeschichtliches Archiv)
In den sechziger Jahren ist das Passagieraufkommen noch einigermassen überschaubar. (Bild: Bildarchiv ETH-Bibliothek)

Im Jahr 1867 werden die ersten Fachwerkträger des neuen Hauptbahnhofs verlegt. (Bild: Baugeschichtliches Archiv)

Nach der Auslagerung der Gleise wurde die Halle für unterschiedliche Zwecke gebraucht. 1958 baute man darin sogar ein spezielles Kinogebäude. 400 Personen fanden Platz im Bahnhofkino, das bis 1985 einen grossen Teil der Halle beanspruchte. Auf die Eröffnung der S-Bahn hin wurde die Halle geräumt, dafür gab es nicht nur einen neuen Durchgangsbahnhof Richtung Museumstrasse und eine Erweiterung des Shop-Ville, sondern auch die entsprechenden Treppenabgänge aus der Wannerhalle.

Die Halle wurde nun künstlerisch geschmückt: mit dem «philosophischen Ei» von Mario Merz auf der einen, Niki de Saint-Phalles «Ange protecteur» auf der anderen Seite. Beide Kunstwerke kamen zu Beginn eher schlecht an – Mario Merz stiess mit dem Hirsch, den Vögeln und den Fibonacci-Zahlen beim normalen Publikum auf wenig Begeisterung, der Engel fiel bei manchen Kunstexperten durch. Zu plump und plakativ fanden einige Fachleute den Engel, ein Leserbriefschreiber in der NZZ sprach gar von einem «Sennentuntschi mit Flügeln».

Ein grauer Fettschleier

Natürlich ist seither geschehen, was immer geschieht in solchen Fällen: Man hat sich an das Kunstwerk gewöhnt und kann es sich kaum mehr wegdenken aus der Bahnhofshalle. Allerdings tut ihm der Ort, an dem es hängt, nicht besonders gut, wie die SBB am Freitag an einer Medienkonferenz erklärt haben. Bremsstaub, Kondenswasser und Vogelkot setzen ihm zu. Das Schlimmste aber seien die regelmässigen Events, bei denen Dämpfe vom Bratwurst- und Raclettestand für die entsprechenden Fettablagerungen auf dem Engel sorgten, sagte der Restaurator Christian Marty.

Alle drei Monate wird der Engel zwar mit Staubwedel und Druckluftspray gereinigt, doch das reicht längst nicht mehr, weshalb er einer umfassenderen Sanierung unterzogen werden muss. Martys Firma Ars Artis AG wird in den nächsten drei Wochen versuchen, den grauen Fettschleier und die andern Ablagerungen zu entfernen. Erschwert wird die Aufgabe dadurch, dass Niki de Saint-Phalle vorwiegend wasserlösliche Acrylfarbe verwendet hatte. Wenn man mit dem Wasserschlauch zu Werke ginge, wäre anschliessend auch gleich die ganze Farbe ab.

Fast wie radieren

Martys Geschäftspartnerin Petra Helm hat nun ein Verfahren ersonnen, mit dem die Reinigung am wenigsten Nebenwirkungen zeitigt. Sie verwendet dazu einen Spezialkautschuk, der sonst für die Reinigung von Papieren verwendet wird, vor allem für die Entfernung hartnäckiger Klebestreifenreste auf alten Dokumenten. Der Dreck wird auf gewisse Weise wegradiert, allerdings wird die Farbe nicht verschmiert, wie dies bei der Verwendung herkömmlicher Radiergummis der Fall wäre. Für die letzte Reinigung kommt dann noch ein Wattebäuschchen auf einem Stift zum Einsatz, mit dem man die Skulptur Zentimeter für Zentimeter behandelt.

Es mag erstaunlich klingen, dass der Engel auch deutliche Wasserschäden aufweist. Das hat damit zu tun, dass die Halle nicht vollständig verschlossen ist. Bei heftigem Schneetreiben kann es in der Halle sogar schneien. Diese Ereignisse sind allerdings deutlich seltener als die regelmässigen Events in der Halle, die gemäss Vereinbarung mit der kantonalen Denkmalpflege an 225 Tagen im Jahr stattfinden dürfen.