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(erstellt: September 2022)

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1. Die aramäische Übersetzung der Hebräischen Bibel

1.1. Grundinformation

Der Targum bezeichnet im Allgemeinen die aramäische Übersetzung der Hebräischen Bibel oder eines Teils davon (Plural: die Targumim, eingedeutscht: das Targum, Plural: die Targume). Das hebräische Wort ist als Lehnwort von akkad. ta/turgummu(m) „Dolmetscher“ abzuleiten (vgl. aram. meturgeman) und bedeutet „Erklärung, Auslegung, Übersetzung“. Bereits in persischer Zeit (5./4. Jh. v. Chr.) hat sich im Judentum der Übergang vom Hebräischen zum Aramäischen (→ Aramäisch) als der gesprochenen Volkssprache vollzogen. Das Hebräische wurde zwar weiterhin als Literatursprache der heiligen Schriften gepflegt, aber in weiten Kreisen der Bevölkerung nicht mehr verstanden (Neh 13,24), so dass die Notwendigkeit einer Übersetzung ins Aramäische gegeben war.

Im Hinblick auf den „Sitz im Leben“ der aramäischen Targume ist zwischen mündlicher und schriftlicher Übersetzung zu unterscheiden. Für die mündliche Übersetzung von Tora und Propheten ist ein Zusammenhang mit ihrer Verlesung im Synagogengottesdienst anzunehmen (vgl. Neh 8,8). Dafür lassen sich Ausführungsbestimmungen zum Targumvortrag aus späteren rabbinischen Quellen anführen (mMeg 4,4-10). Danach hat bei der Verlesung der Tora die mündliche Übersetzung des Meturgeman nach jeweils einem hebräischen Vers zu erfolgen, bei den Propheten nach jeweils drei hebräischen Versen.

Die Verwendung schriftlicher Targume ist dagegen im Synagogengottesdienst untersagt (yMeg 4,1), woraus abzuleiten ist, dass sie vorhanden waren und offenbar auch im Gottesdienst verwendet worden sind. Die ersten schriftlichen Übersetzungen ins Aramäische dürften bereits im 4./3. Jh. v. Chr. und wohl noch vor der → Septuaginta entstanden sein (Beyer 1984, 274). Das lässt sich aber aufgrund der Quellenlage nicht beweisen. Die älteste Handschrift, das Levitikus-Targum aus → Qumran, stammt aus dem 2. Jh. v. Chr. (s.u.). Umstritten ist die Frage, ob die schriftlichen Targume gleicherweise im Zusammenhang mit dem Synagogengottesdienst entstanden sind oder zu Zwecken des Schriftstudiums angefertigt wurden. Für Letzteres spricht das Hiob-Targum aus Qumran (s.u.), das den schwierigen und teilweise verderbten hebräischen Hiobtext im Hinblick auf sein verwendetes Vokabular und seine Grammatik in einen besser verständlichen Text übersetzt hat.

Zwischen den frühen Targumen aus Qumran und den späteren, palästinischen und babylonischen Targumen klafft eine Überlieferungslücke von mehreren Jahrhunderten. In dieser Zwischenzeit hat sich die Targumtradition in ihrer Sprachgestalt und Ausprägung wesentlich fortentwickelt. Waren schon die frühen Targume keine rein wörtlichen Übersetzungen, zeigen die späteren Targume eine deutliche Tendenz zur Umschreibung des originalen Wortlauts, zur Deutung des biblischen Inhalts und zur Einbindung in die religiösen Auffassungen ihrer Zeit. Gelegentliche haggadische und halachische Einschübe dienen der Auslegung und Erbauung.

1.2. Forschungsinteressen

Verschiedene Fragestellungen bestimmen die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Targumen: In der alttestamentlichen Wissenschaft werden sie in der Regel als Textzeugen der Hebräischen Bibel herangezogen. Dabei stehen sie in vielen Fällen dem Masoretentext nahe. Doch ist bei der Auswertung stets zu berücksichtigen, dass ihr eher freier Umgang mit dem hebräischen Ausgangstext ihren Zeugenwert mindert und nicht immer zuverlässige Rückschlüsse auf ihre hebräische Textvorlage gestattet. Dennoch können die Varianten der aramäischen Übersetzungen in Einzelfällen einen protomasoretischen oder anderen hebräischen Vorlagetext bestätigen. Dabei werden die Lesarten der Targume in der Zusammenschau mit den anderen Textzeugen und alten Übersetzungen (Septuaginta, → Peschitta, Vulgata) evaluiert.

Neben Textkritik und Textgeschichte (→ Bibeltext / Textkritik) rückt die targumische Auslegungstradition in den Blick, die sich in vielschichtiger Weise in ihren Deutungen alttestamentlicher Texte widerspiegelt. Da diese Auslegungstradition teilweise bis in neutestamentliche Zeit zurückreicht, interessiert sich die neutestamentliche Wissenschaft für die in den Targumen vertretenen Deutungen und setzt sie ins Verhältnis zum Verständnis neutestamentlicher Autoren. Dabei spielen auch theologische Themen wie → Vergeltung, → Engel, Gericht oder apokalyptische Vorstellungen eine Rolle (McNamara 2011b, 480-517). Die Auswertung der Targumliteratur für das Neue Testament erfordert freilich besondere Vorsicht, weil in ihr „Material“ aus verschiedenen Zeiten wiedergegeben wird, das zudem durch Redaktionen gestaltet oder auch umgestaltet worden ist.

Mehr und mehr werden die Targume auch als eine eigenständige Textgattung wahrgenommen, die nicht nur als Übersetzung und Auslegung anzusprechen ist, sondern auch als Literatur mit bestimmten theologischen Interessen (z.B. der Vermeidung von → Anthropomorphismen in der Rede von Gott). Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich die Judaistik mit der Frage, wie sich Targum- und Midraschliteratur (→ Midrasch) zueinander verhalten und in welcher Hinsicht mit einer gegenseitigen Beeinflussung im entsprechenden Entstehungszeitraum zu rechnen ist. Im Blick auf die halachisch erweiterten Passagen der Targumliteratur stellt sich des Weiteren die Frage, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihr und den in der (hebräischen) → Mischna fixierten und im 3. Jh. n. Chr. vorherrschenden halachischen Deutungen bestehen.

Schließlich ist noch auf die Aramaistik hinzuweisen, die anhand der Targumliteratur den Übergang vom Reichsaramäischen zum Mittelaramäischen und in der weiteren Entwicklung die Ausprägung in einen westaramäischen und ostaramäischen Zweig untersucht (→ Aramäisch).

2. Die frühen Targume aus Qumran

2.1. Levitikus-Targum (4QtgLev = 4Q156)

In den Höhlen von Qumran wurden bisher drei Targumfragmente entdeckt. Unter ihnen ist das in einem sehr schlechten Zustand erhaltene Levitikus-Targum das älteste. Es stammt aus dem 2. Jh. v. Chr. und bietet Reste von Lev 16,12-15 und Lev 16,18-21. Eine Besonderheit ist die Verwendung von Doppelpunkten als Satztrenner, die sich zu dieser Zeit nur in griechischen Handschriften ab dem 2. Jh. v. Chr. finden. Die geringe Kolumnenhöhe von 13-15 Zeilen macht es unwahrscheinlich, dass das Targum einmal den gesamten Text des → Leviticus umfasst hat. Die Handschrift ist deshalb als ein Exzerpttargum anzusprechen (Lange 2009, 114). Sollte es zu liturgischen Zwecken angefertigt worden sein, ist seine Entstehung in der Qumrangemeinschaft auszuschließen. Die Übersetzung folgt im Wesentlichen dem Masoretentext und steht dem Targum Onkelos (s.u.) nahe.

2.2. Hiob-Targum (4QtgHi = 4Q157; 11QtgHi = 11Q10)

Das in Höhle 4 gefundene Targumfragment stammt aus dem 1. Jh. n. Chr. und besteht aus zwei stark beschädigten Stücken. Nur das größere ist lesbar und bietet Worte aus Hi 3,5-9; Hi 4,16-21; Hi 5,1-4. Dagegen gehört das aus Höhle 11 stammende Hiob-Targum zu den umfangreichsten Schriftrollen aus Qumran. Von ihm sind 32 Kolumnen mit Text aus Hi 17,14-42,12 erhalten; das entspricht ca. 15% des hebräischen Hiobbuches. Das Targum bietet im Großen und Ganzen eine wörtliche Prosaübersetzung des Masoretentextes. Dabei werden schwer verständliche und verderbte Stellen in sinnvolle Sätze verwandelt, missverständliche Aussagen über Gott entschärft. Manche Varianten weichen vom Masoretentext ab und stimmen in seltenen Fällen mit dem Septuagintatext überein. Der Grund dafür dürfte in dem verwendeten hebräischen Vorlagetext zu suchen sein. Dagegen ist auszuschließen, dass der Übersetzer des Hiob-Targums den Kurztext des griechischen Hiobbuches gekannt hat (Lange 2009, 459). Die Handschrift des Hiob-Targums stammt aus der Mitte des 1. Jh.s n. Chr. Damit ist aber noch nichts über das Alter der aramäischen Übersetzung gesagt. Sprachliche Gründe weisen auf eine Entstehung zwischen 250-150 v. Chr. hin. Als Abfassungsort steht → Mesopotamien in der Diskussion (Muraoka 1974, 442). Ob das Fragment 4Q157 mit dem Hiob-Targum aus Höhle 11 zusammengehört, lässt sich nicht beweisen.

Die Existenz eines schriftlichen Hiob-Targums ist auch literarisch durch rabbinische Quellen bezeugt (tSchab 13,2; bSchab 115a; Traktat Soferim 5,15; Traktat Soferim 15,2). In ihnen wird von Rabbi Gamaliel, dem Lehrer des Paulus (Apg 22,3), berichtet, dass man ihm ein Targum des Hiobbuches vorgelegt hat. Gamaliel wollte es jedoch nicht anerkennen und bestimmte, dass es auf dem Tempelberg vergraben und dadurch seiner weiteren Benutzung entzogen werden soll. Über die Absicht kann man nur vermuten, dass die Verwendung resp. das Studium des aramäischen Hiobbuches anstelle des hebräischen Originals verhindert werden sollte.

3. Die palästinischen Targume

3.1. Bezeichnung und Charakter

Von den palästinischen Targumen spricht man in der Regel im Plural oder fasst sie unter dem Sammelbegriff „palästinische Targum-Tradition“ zusammen. Diese umfasst eine Vielzahl von Targumtexten zum → Pentateuch, die zu keinem Zeitpunkt einer offiziellen Redaktion unterzogen wurden und deshalb in größerem oder geringerem Umfang voneinander abweichen. Man unterscheidet kontinuierliche Targume, die den fortlaufenden Text einzelner Bücher oder des gesamten Pentateuchs darbieten, Fragmenten-Targume, die Lesarten zu einzelnen Versen oder längeren Abschnitten enthalten, Zusatz-Targume, die in den Handschriften am Rand oder am Ende einzelner Bücher bzw. des Pentateuchs notiert sind sowie Zusammenstellungen zu den Leseabschnitten an bestimmten Festtagen. Ihre Kennzeichnung als „palästinisch“ oder als „Targum Jeruschalmi“, so die alte Bezeichnung, dient der Unterscheidung von den babylonischen Targumen, die in → Babylonien tradiert worden sind. Dabei beziehen sich → Palästina bzw. Babylonien auf den Hauptüberlieferungsort (Gleßmer 1995, 83), der nicht mit dem Herkunftsort der Targume übereinstimmen muss. Dies ist vor allem im Blick auf das babylonische Targum Onkelos zu beachten, das wahrscheinlich aus Palästina stammt, aber schon früh nach Babylonien gebracht, dort bearbeitet und autorisiert worden ist.

3.2. Genisa-Texte

Ende des 19. Jh.s wurde bei Renovierungsarbeiten der Ben-Esra-Synagoge in Kairo ein vermauerter Abstellraum (→ Genisa) entdeckt, in dem eine Menge an gebrauchten religiösen Schriftrollen deponiert war. Darunter fanden sich über 200 Bruchstücke von Targumtexten zum Pentateuch. Die Handschriften stammen aus dem 7.-11. Jh. Sie enthalten den hebräischen Text und den dazugehörigen Targumtext, wobei die Texte abwechselnd Vers für Vers wiedergegeben werden (Manuskripte B, C, D). Der Bibeltext wird teilweise wörtlich übersetzt, teilweise umschrieben und durch midraschartige Interpretationen ergänzt. Für das hohe Alter der von ihnen bezeugten palästinischen Targum-Tradition spricht, dass manche Auslegungen von den in der Mischna gegebenen Deutungen abweichen.

3.3. Codex Neofiti

Der Codex Neofiti bietet das einzige vollständig erhaltene palästinische Targum zum Pentateuch. Bei ihm handelt sich um eine relativ späte Handschrift aus dem Jahr 1504. Sie wurde zunächst in der Bibliothek des Kollegs der Neophythen in Rom aufbewahrt (daher der Name „Neofiti“) und im 19. Jh. von der Vatikan-Bibliothek käuflich erworben, jedoch im Katalog irrtümlich als Targum Onkelos geführt. Erst 1956 konnte Alejandro Diez Macho den Irrtum aufklären und nachweisen, dass der Text zur palästinischen Targum-Tradition gehört. Der Codex umfasst 449 Blätter und bietet zahlreiche Randglossen sowie interlineare Lesarten, die von verschiedenen Schreibern eingetragen sind. Diese stimmen teilweise mit den Genisa-Texten, teilweise mit den Rezensionen des Fragmenten-Targums (s.u.) überein, bieten aber auch eigene Deutungen. Manche Passagen lassen sich auf eine nichtmasoretische hebräische Textvorlage zurückführen. Die Entstehungszeit ist umstritten, zumal anzunehmen ist, dass Einzeltraditionen aus verschiedenen Zeiten in den Text aufgenommen und verarbeitet worden sind. Es wird deshalb mit großer Zurückhaltung erwogen, die Hauptmasse des Targums zeitlich im 1.-2. Jh. n. Chr. anzusetzen.

3.4. Fragmenten-Targum (= Targum Jeruschalmi II)

Ein weiteres bedeutsames Zeugnis der palästinischen Targum-Tradition ist das Fragmenten-Targum, das auch als Targum Jeruschalmi II bezeichnet wird. Sein Text bietet eine Zusammenstellung zu einzelnen Wörtern, Versen oder längeren Abschnitten des Pentateuchs. Ob sie auf ein ursprünglich komplettes Targum zurückzuführen ist, lässt sich nicht mehr aufklären. Wahrscheinlicher ist, dass sich das Fragmenten-Targum aus verschiedenen Quellen resp. aus der Targum-Tradition speist, so dass man seinen Text auch als eine Varianten-Sammlung charakterisieren kann. Die vier Rezensionen, in denen das Fragmenten-Targum überliefert ist, unterscheiden sich jedenfalls quantitativ und qualitativ voneinander. Die Handschriften stammen aus dem 11.-17. Jh. Über Ursprung und Alter des Fragmenten-Targums lassen sich nur Vermutungen anstellen. Sein Auswahlcharakter spricht dafür, dass es zeitlich nach den Genisa-Texten und dem Codex Neofiti anzusetzen ist. Sollte es die Absicht des Fragmenten-Targums gewesen sein, das offizielle Targum Onkelos mit haggadischen Stücken der palästinischen Targum-Tradition zu ergänzen, müsste man es noch später datieren.

3.5. Targum Pseudo-Jonathan (= Targum Jeruschalmi I)

Der Name geht auf eine falsche Auflösung der Abkürzung Taw-Jod zurück. Dabei wurde das Jod als Anfangsbuchstabe von Jonathan gedeutet und mit Jonathan ben Uzziel, einem Schüler Hillels, verbunden. Die Abkürzung steht jedoch korrekt für „Targum Jeruschalmi“. Als der Irrtum im 18. Jahrhundert aufgedeckt wurde, kam auch der Name „Pseudo-Jonathan“ in Gebrauch. Aufgrund seiner alten Bezeichnung als Targum Jeruschalmi lässt sich Pseudo-Jonathan zu den palästinischen Targumen stellen. Doch ist die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe umstritten, denn der Grundtext (ohne die haggadisch erweiterten Stücke) hat Worte und ganze Passagen mit dem Targum Onkelos gemeinsam. Zugleich sind aber auch Beziehungen zur palästinischen Targum-Tradition offensichtlich. Der Befund wird gegensätzlich gedeutet. Auf der einen Seite wird angenommen, dass Pseudo-Jonathan auf einen Onkelos-Text zurückgeht und mit umfangreichen Materialien aus palästinischen Targumen angereichert wurde. Auf der anderen Seite betrachtet man Pseudo-Jonathan als ein ursprünglich palästinisches Targum, das unter dem wachsenden Einfluss des Targums Onkelos bearbeitet und an den offiziellen Text angeglichen wurde. Eine dritte Auffassung nimmt an, dass es eine gemeinsame Vorstufe gegeben habe („Proto-Targum-Onkelos“), aus der sich beide Targum-Versionen entwickelt haben.

Pseudo-Jonathan ist das umfangreichste Targum zum Pentateuch, es übersetzt am wenigsten wörtlich und bietet die meisten haggadischen und halachischen Erweiterungen. Der Text folgt der Vers-für-Vers-Struktur, doch gehen die dazwischenstehenden Paraphrasen und Auffüllungen weit über den Bibeltext hinaus. Das fast vollständig erhaltene Targum wird durch eine im Britischen Museum aufbewahrte Handschrift aus dem 16. Jh. überliefert sowie durch den erstmaligen Abdruck in einer 1590 in Venedig hergestellten → Rabbinerbibel. Die Entstehungszeit des Targums Pseudo-Jonathan bleibt aus den genannten Gründen unsicher, doch lässt sich seine Hauptmasse wohl kaum vor dem 7. Jh. n. Chr. datieren.

4. Die babylonischen Targume

4.1. Lehrhäuser und Akademien

Im 3.-5. Jh. n. Chr. bildet die Stadt Tiberias das Zentrum rabbinischer Gelehrsamkeit in Palästina. Zur gleichen Zeit entstehen in Babylonien jüdische Lehrhäuser in den am westlichen Ufer des → Euphrat gelegenen Städten Sura, Nehardea und – nach der Zerstörung von Nehardea 259 n. Chr. – im weiter nördlich gelegenen Pumbedita (heute die irakische Stadt Falludscha). Ihre Blütezeit erreicht das babylonische Judentum unter der islamischen Herrschaft im 8.-10. Jh. n. Chr. Die Lehrhäuser in Sura und Pumbedita haben sich inzwischen zu großen Akademien entwickelt, die von Schuloberhäuptern, den Geonim (hebr. gaon „Hoheit“), geführt werden. Diese besitzen die Autorität, in Fragen der Gesetzesauslegung Entscheidungen zu treffen, die auch für andere jüdische Gemeinden maßgeblich sind. Darin spiegelt sich der gewachsene Einfluss des babylonischen Judentums und seiner religiösen Institutionen. Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, warum die Targumtexte in Babylonien nicht nur redigiert, sondern auch autorisiert worden sind.

4.2. Targum Onkelos zum Pentateuch

Der Name geht auf eine Notiz im Babylonischen → Talmud zurück (bMeg 3a), die das Targum einem Proselyten namens Onkelos zuschreibt. Die babylonische Schreibung des Namens lässt sich aber auch als „Aquila(s)“ lesen, wie die Parallelstelle im Jerusalemer Talmud bezeugt (jMeg 73c). Damit wird das Targum mit der im 2. Jh. n. Chr. entstandenen griechischen Übersetzung des Aquila (→ Septuaginta) in Verbindung gebracht, die den hebräischen Bibeltext wörtlicher als die Septuaginta übersetzt und bei den Juden in hohem Ansehen stand. Die Zuschreibung ist freilich sekundär und beruht auf traditionsgeschichtlichen Gründen. Die im Mittelalter übliche Bezeichnung ist „babylonisches Targum“.

Das Targum Onkelos bezieht sich auf den Pentateuch und bietet eine vergleichsweise wörtliche Übersetzung, die sich fast durchgehend am Masoretentext orientiert. Umfangreiche midraschartige Erweiterungen wie in den palästinischen Targumen fehlen. Doch sind auch in seinen Text eine Fülle von interpretativen Elementen und exegetischen Deutungen eingebunden. Für die alttestamentliche Textkritik ist das Targum Onkelos ein wichtiger, aber auch problematischer Textzeuge. Denn es ist schwer einzuschätzen und jeweils vom Kontext her zu prüfen, ob eine dem hebräischen Bibeltext entsprechende Übersetzung oder eine paraphrasierende Umschreibung vorliegt.

Wie bereits erwähnt, wird zumindest für den Grundtext des Targums eine palästinische Herkunft erwogen. Falls das zutreffen sollte, muss diese Textvorlage jedoch früh nach Babylonien gekommen sein. Denn eine dem Targum Onkelos beigegebene Masora zeigt unterschiedliche Lesarten der beiden babylonischen Schulen von Sura und Nehardea und muss deshalb vor der Zerstörung von Nehardea im 3. Jh. n. Chr. angefertigt worden sein. Wann der Targumtext seine endgültige Redaktion erfahren hat, ist nicht sicher zu bestimmen. Doch lässt sich nachweisen, dass das ursprünglich in Babylonien verwendete supralineare System der Punktation im Prozess der Überlieferung auf das intralineare, aus Palästina stammende tiberisch-masoretische System umgestellt wurde. Ebenfalls lässt sich feststellen, dass das Targum Onkelos im frühen Mittelalter – vermutlich unter dem Einfluss der großen Akademien – den Status eines autorisierten und offiziell anerkannten Targumtextes erlangt hat. Seine Verbreitung hat in der Folge auf die palästinische Targum-Tradition eingewirkt und sie teilweise auch zurückgedrängt.

Bezeugt wird das Targum Onkelos durch eine Reihe von Geniza-Fragmenten mit babylonischer Punktation, die aus dem 7.-11. Jahrhundert stammen, sowie durch zwei jemenitische Handschriften, die sich im Britischen Museum in London befinden.

4.3. Targum Jonathan zu den Propheten

Beim Targum Jonathan handelt es sich um das offizielle babylonische Targum zu den vorderen und hinteren Propheten, also zu Richter bis Könige und Jesaja bis Maleachi. Nach dem Babylonischen Talmud wird es Jonathan ben Uzziel, einem Schüler Hillels, zugeschrieben (bMeg 3a). Der hebräische Name Jonathan („Jahwe hat gegeben“) lautet in seiner griechischen Form „Theodotion“, so dass sich das Targum Jonathan (ähnlich wie beim Targum Onkelos) mit einer jüdischen Rezension der Septuaginta in Verbindung bringen lässt, die unter dem Namen Theodotion in der sechsten Spalte der Hexapla des Origenes notiert ist (→ Septuaginta). Gleichwohl ist davon auszugehen, dass weder Jonathan ben Uzziel noch Theodotion etwas mit der Entstehung des Targums zu tun haben.

Allgemein wird angenommen, dass sein Grundtext ebenfalls aus Palästina stammt, nach Babylonien gebracht und dort im 3.-5. Jh. n. Chr. redigiert worden ist. In Sprache und Übersetzungsstil gleicht das Targum Jonathan dem Targum Onkelos, was freilich auch auf Vereinheitlichung durch die Endredaktion zurückgeführt werden kann. Besonders in den schwierigen poetischen Abschnitten der Prophetenbücher Jesaja bis Maleachi wird der hebräische Bibeltext frei und paraphrasierend wiedergegeben. Die midraschartigen Erweiterungen enthalten oft interessante Auslegungen. Manche Bestandteile des Targums scheinen in vorchristliche Zeit zurückzureichen, was an der Herkunft aus der palästinischen Targum-Tradition liegen wird. Rückschlüsse auf die Datierung des Gesamttextes lassen sich daraus nicht ziehen. Zitate aus dem Targum Jonathan, die im Babylonischen Talmud mit Rab Josef bar Chijja, dem Leiter der Schule in Pumbedita, verbunden sind, weisen auf eine Bearbeitung im 4. Jh. n. Chr. hin, ohne dass man sagen kann, wann der Text abschließend festgestellt worden ist. Das Prophetentargum ist in rabbinischen und polyglotten Bibeln des 16.-17. Jh.s abgedruckt.

5. Die weiteren Targume

Auch zum dritten Kanonteil der Hebräischen Bibel, den Schriften (Ketubim), gibt es Targume, mit Ausnahme der Bücher Daniel und Esra / Nehemia, die teilweise auf Aramäisch verfasst sind. Die Targume zu den Schriften sind für gewöhnlich palästinischer Herkunft und zu verschiedenen Zeiten entstanden. Da sie niemals eine gemeinsame Redaktion durchlaufen haben, sind ihre Texte von sehr unterschiedlichem Charakter.

Das Targum Hiob (das keine Beziehung zu dem frühen Hiob-Targum aus Qumran [s.o.] aufweist) bietet in 40-50 Fällen eine Doppelübersetzung, wobei die zweite Übersetzung mit der Abkürzung Taw-Alef (aram. targum acher „eine andere Übersetzung“) eingeführt wird und meist einen haggadisch erweiterten Text enthält. In zahlreichen Fällen zeigt das Targum eine vom zugrundeliegenden Masoretentext abweichende Vokal- und Konsonantenlesung, was vielleicht auf die Benutzung eines (noch) nicht vereinheitlichten Masoretentextes zurückzuführen ist. Charakteristisch für das Targum zu den Sprüchen ist seine enge Verwandtschaft mit der syrischen Bibelübersetzung (→ Peschitta). Die Übereinstimmungen beziehen sich auch auf Lesarten, die nicht dem Masoretentext entsprechen. Die Übersetzung ist nahezu wörtlich und bietet keine haggadischen Erweiterungen.

Vom Targum zu → Ester – dem einzigen biblischen Buch unter den Schriften, das im Synagogengottesdienst gelesen wurde – gibt es zwei Versionen, eine den Bibeltext wörtlich wiedergebende Kurzfassung (Targum EstIII) und eine frei übersetzte und um midraschartige Erweiterungen vermehrte Langfassung (Targum EstI). Das Verhältnis beider Fassungen ist noch nicht abschließend geklärt. Auf der einen Seite wird angenommen, dass der Kurztext die ursprüngliche Fassung des Targums darstellt. Auf der anderen Seite wird der Langtext als älter beurteilt, aus dem der Kurztext als eine künstlich hergestellte und von den midraschartigen Elementen gereinigte Fassung hervorgegangen sei. Darüber hinaus gibt es noch ein weiteres Esther-Targum, das sogenannte Targum Scheni (Targum EstII), das als ein eigenständiges literarisches Werk zu sehen ist (Ego 1996, 7). Sein Text bietet Paraphrasierungen und umfangreiche zusätzliche Materialien, die nicht direkt mit der Esther-Geschichte zusammenhängen.

Das Targum zum Hohenlied (→ Hoheslied) folgt einer verbreiteten Auslegungstradition, indem es die Liebeslieder auf die Geschichte der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk Israel deutet und in dieser Hinsicht das biblische Buch ausarbeitet. Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass bei der Auswertung der Targume jeweils ihre Eigenart und Ausprägung zu berücksichtigen sind.

6. Das Samaritanische Targum

Zu dem in der samaritanischen Gemeinschaft verwendeten Samaritanischen Pentateuch liegt ebenfalls ein Targum vor. Man wird jedoch besser von unterschiedlichen und über mehrere Jahrhunderte gewachsenen Targumtexten sprechen müssen, da es zu keiner Zeit zu einer umfassenden Redaktion gekommen ist und die Zusammenhänge noch kaum hinreichend erforscht sind (Gleßmer 1995, 202f). In Europa ist die samaritanische Targum-Tradition erst im 17. Jh. durch Abdruck in den polyglotten Bibeln (→ Bibeltext / Textkritik) von Paris (1629-1645) und London (1653-1657) bekannt geworden. Eine kritische Textausgabe, die Abraham Tal durch Auswertung zweier verschiedener Handschriftengruppen hergestellt hat, liegt seit den 1980er Jahren vor.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971-1996
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2005
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007

2. Textausgaben

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  • Clarke, E.G., 1984, Targum Pseudo-Jonathan of the Pentateuch. Text and Concordance, Hoboken
  • Diez Macho, A., 1968-1979, Neophyti 1. Targum Palestinense, Ms de la Biblioteca Vaticana, Tom. I-VI, Madrid
  • Klein, M.L., 1980, The Fragment-Targums of the Pentateuch, Bd. I-II, AnBib 76, Rom
  • Klein, M.L., 1986, Genizah Manuscripts of Palestinian Targum to the Pentateuch, Cincinnati / Rom
  • Sperber, A. (Hg.), 1959-1973, The Bible in Aramaic. Based on Old Manuscripts and Printed Texts, Vol. I-IVb, Leiden (Nachdruck: Leiden 1992)
  • Tal, A., 1980-1983, The Samaritan Targum of the Pentateuch. A Critical Edition, Texts and Studies in the Hebrew Language and Related Studies IV-VI, Tel Aviv

3. Weitere Literatur

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  • Ego, B., 1996, Targum Scheni zu Ester. Übersetzung, Kommentar und theologische Deutung, TSAJ 54, Tübingen
  • Fischer, A.A., 2009, Der Text des Alten Testaments. Neubearbeitung der Einführung in die Biblia Hebraica von Ernst Würthwein, Stuttgart
  • Flesher, P.V.M. / Chilton, B.D., 2011, The Targums: A Critical Introduction, Waco
  • Gleßmer, U., 1995, Einleitung in die Targume zum Pentateuch, TSAJ 48, Tübingen
  • Lange, A., 2009, Handbuch der Textfunde vom Toten Meer, Bd. 1: Die Handschriften biblischer Bücher von Qumran und den anderen Fundorten, Tübingen
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  • McNamara, M., 2011b, Targum and New Testament. Collected Essays, WUNT 279, Tübingen
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  • Naumann, P., 1996, Targum. Brücke zwischen den Testamenten, Konstanz
  • Oberhänsli-Widmer, G., 2003, Hiob in jüdischer Antike und Moderne. Die Wirkungsgeschichte Hiobs in der jüdischen Literatur, Neukirchen-Vluyn
  • Schäfer, P., 1980, Art. Bibelübersetzungen II. Targumim, TRE 6, Berlin / New York, 216-228
  • Tilly, M., 2008, Die Targume – Zeugnisse der Rezeptionsgeschichte der Bibel im Judentum, Sacra Scripta 6, 7-19

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